Freitag, 18. Oktober 2013

Zeit für Literaturgeschichte: Fritz August Kravenich (1939-1968)

Der Nagel (1952)

»Die Augen sind in Anstrengung zusammengekniffen. Die Pupillen schielen über Kreuz, so sehr stiert er auf den Nagel zu seinen Sohlen. Mit aller Kraft hieft er das Werkzeug empor, hoch in die Lüfte. Der Mund öffnet sich zu einem mächtigen Schrei, die Ohren wandern an den Seiten herauf, die Nasenflügel weiten sich. Weit auf reißt er die Augen, sodass ihr Weiß im Licht der Flurlampe glänzt. Sein ganzer Körper steht in Spannung. Nur mit den Zehenspitzen der schweren Stiefel berührt er noch den Boden.
Dann kracht der Hammer vor dem Körper nieder - daneben: Die Dielen splittern. Die schwieligen Pranken lösen sich vom abgegriffenen Stiel. Und schon schleudert die Kreatur die Arme empor und brüllt gurgelnd ihren Unmut in die Weite des niedrigen Hausflures hinaus.
Hinter seinem Rücken öffnet sich die Tür der Wohnung zur Rechten und eine alte Frau steckt den Kopf heraus. Ihr Blick erstarrt, als sie das Wesen erblickt. Dieses dreht sich nun herum, die Hände schlackern herab, nur Kopf und Augen kreisen im Wahn: »Bier!« schreit das Biest, »Ich will Bier, Bier!« Es stampft durch den Flur, an der schreckensstarren alten Frau vorbei, welcher der rosa Schlafrock vom dürren, zitternden Körper hängt. »Feierabend!« grunzt es, und schon mischt sich wieder kindliche Freude in die tiefe Stimme. »Ist Feierabend! Gibt Feierabendbier!«, hört man den Koloss noch glucksen, als er die Treppe ins Erdgeschoss hinab donnert.
Nur der Nagel steht noch zwischen den Dielen, aufrecht und den Kopf keck in die Luft gestreckt.«
(aus: Fritz August Kravenich, Baumaßnahmen - Essays und Erzählungen, erschienen im Rubbendiek-Verlag, 1956)

Fritz August Kravenich wurde in den Kriegswirren im Winter 1939 in Bugenbach geboren und wuchs als einziger Sohn der Waschfrau Kristiane Börlock und des Schuhmachers Karl Adalbert Kravenich auf. Bereits in früher Jugend erhielt sein Leben einen richtungsweisenden Stoß: Als Kravenich auf dem Weg zur Förderschule um Haaresbreite vom Speichel eines Bauarbeiters verfehlt wurde, der von einem Gerüst auf den Fußgängerweg hinabgespuckt hatte, erlitt der junge Kravenich einen Schwächeanfall und musste mehrere Tage in der Klinik um sein Leben kämpfen. Dieses traumatische Erlebnis markierte den Beginn seines Schreibens und eröffnete zugleich das erste und wichtigste Motiv seines Schaffens: Das des ungestümen Bauarbeiters, der – wie Kravenich das Bild weiterführte – an seiner Aufgabe scheitert. Bereits seine 1956 erschienene Sammlung »Baumaßnahmen - Essays und Erzählungen« fand große Beachtung in der Presse. Mit seinem nur wenige Jahre später veröffentlichten Roman »Knaackenbräck - Aus dem Leben eines Handwerkers« gelangte Kravenich schließlich zu weltweiter Anerkennung. Der Roman wurde bis heute in 46 Sprachen übersetzt und erschien zuletzt in der vollständig überarbeiteten 18. Auflage.

Weltweiter Ehrungen zum Trotze wurde Kravenich jedoch ebenso stets von Literaturkritikern geschmäht und besonders Handwerkervereine protestierten regelmäßig gegen seine »unsäglichen Diffamierungen« und seine »Hetze gegen hart arbeitende Fachmänner«. Immer wieder geriet Kravenich in Rechtsstreitigkeiten mit denen, die sich von ihm angegriffen fühlten, und immer wieder kam es auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, in denen Kravenich stets der Unterlegene war und blieb. Diese Position der elementaren Schwäche konnte er nie verwinden, wie eine Passage aus einem seiner Briefe an Luise Mölenpfoht aus dem Jahr 1964 zeigt: »Was ich bin denn? Was bin ich vor Hämmern und Sägen und Zangen und Schraubendrehern? Diese verhassten Wesen schleudern mir ihre Nägel und Bolzen und Muttern und Schrauben entgegen. Wie kann ein menschliches Wesen da noch bestehen?« Frustriert und immer häufiger von wahnhaften Gedanken begleitet geriet Fritz August Kravenich am 24. Oktober 1968 auf einem seiner gedankenversunkenen Spaziergänge durch das heimatliche Bugenbach in den Zementstrahl eines Betonmischers. Als man bei der Bauabnahme schließlich das Unglück bemerkte, war es bereits zu spät. Die Stadt erklärte den rechten Vorderpfeilers der Bugenbacher Sparkasse, indem sich der Verblichene befand, daraufhin zum Denkmal, dennoch wurde das Gebäude bereits 1979 abgerissen und durch einen Baumarkt ersetzt.

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